Eine Geschichte von Frieden und Vergebung

Von Elizabeth Gilbert:


"An meinem neunten Schweigetag meditierte ich nach Sonnenuntergang am Strand und erhob mich erst nach Mitternacht.

„Das ist deine Chance“, sagte ich zu meinem Geist. „Zeig mir alles was dich bedrückt. Ich will alles sehen. Halt nichts zurück“.
Nacheinander hoben all die traurigen Gedanken und Erinnerungen die Hand, standen auf und sagten ihre Namen.
Ich betrachtete jeden Gedanken, jeden Kummer. Nahm ihn an und spürte, ohne mich davor schützen zu wollen, seinen furchtbaren Schmerz.
Dann sagte ich zum ersten Kummer: “Es ist gut. Ich liebe dich. Ich akzeptiere dich. Komm in mein Herz. Es ist vorbei.“
Und tatsächlich spürte ich, wie dieser Kummer, als sei er ein lebendiges Wesen, in mein Herz eintrat, als sei dieses ein realer Raum.
Dann rief ich „der nächste bitte!“ Und der nächste Kummer erschien.
Ich sah ihn mir an, spürte ihn, segnete ihn und lud auch ihn in mein Herz ein.
Und so verfuhr ich mit allen schmerzlichen Gedanken, die ich jemals gehabt hatte, bis keiner mehr übrig war.
Dann sagte ich zu meinem Geist: „Und nun zeig mir deinen Zorn.“
Eines nach dem anderen traten sämtliche Ärgernisse meines Lebens vor mich hin. Machten sich bekannt. Jede Ungerechtigkeit, jeder Betrug, jeder Verlust, jeglicher Zorn.
Ich empfing sie alle, einen nach dem anderen und akzeptierte sie, empfand jeden Ärger in seiner Gänze, als ob er mich zum ersten Mal heimsuchte, und sagte dann: „Komm in mein Herz. Hier kannst du ausruhen. Hier bist du in Sicherheit. Es ist vorbei. Ich liebe dich.“
Das alles zog sich über Stunden hin und ich durchlebte ein Wechselbad der Gefühle, empfand einen erschütternden Moment lang ein jedes Ärgernis und im Anschluss daran die Gelassenheit, sobald die Wut, die wie durch eine Tür in mein Herz getreten war, sich niederlegte, an ihre Brüder schmiegte und das Kämpfen aufgab.
Schließlich kam der schwierigste Teil.
„Zeig mir deine Scham“, bat ich meinen Geist.
Mein Gott, welche Schrecken ich da zu Gesicht bekam!
Eine erbärmliche Prozession all meiner Schwächen, Lügen, meines Egoismus und meiner Eifersucht.
Aber ich fasste sie ins Auge. „Zeig mir das Schlimmste“, bat ich.
Als ich diese beschämenden Gefühle dann in mein Herz einlud, zögerte jedes von ihnen an der Schwelle und sprach: „Nein, du willst mich bestimmt nicht da drinnen haben. Weißt du denn nicht was ich getan habe?“
Und ich entgegnete: „Ich will dich. Auch dich will ich. Ich heiße dich sogar ausdrücklich willkommen. Es ist gut. Dir ist vergeben. Du kannst dich ausruhen. Es ist vorbei.“
Danach fühlte ich mich leer. Nichts kämpfte mehr in mir. Ich betrachtete mein Herz, meine Güte, sah ihr Potential. Ich erkannte, dass das Leistungsvermögen meines Herzens nicht einmal annähernd erschöpft war. Nicht einmal, nachdem es all diese elenden Schmerz- Wut- und Schamgören aufgenommen und versorgt hatte. Mein Herz hätte noch weit mehr in sich aufnehmen und verzeihen können. Seine Liebe war unendlich.
Damals wurde mir klar, dass wir auf diese Weise von Gott geliebt und willkommen geheißen werden. Dass es keine Hölle gibt in dieser Welt, es sei denn, in unserem verängstigten Bewusstsein. Denn wenn schon ein beschädigtes und eingeschränktes Menschenwesen eine derartige Erfahrung absoluter Vergebung und Selbstbejahung machen konnte, dann möge man sich doch einmal vergegenwärtigen, was Gott in seiner ewigen Barmherzigkeit alles vergeben und bejahen kann.
Klar war mir auch, dass diese innere Ruhe etwas Vorübergehendes war. Es war nicht für immer vorbei. Irgendwann würden mein Zorn, meine Traurigkeit und meine Scham wieder hervorgekrochen kommen, sich aus meinem Herzen davon stehlen und aufs Neue mein Denken bestimmen. Immer wieder würde ich mich mit diesen Gedanken auseinandersetzen müssen, bis ich entschlossen mein ganzes Leben umkrempelte.
Es würde schwierig werden und große Anstrengungen kosten.
Doch im Dunkel und in der Stille dieses Strandes sprach mein Herz zu meinem Geist: „Ich liebe dich. Ich werde dich nie verlassen. Ich werde mich immer um dich kümmern.“
Dieses Versprechen erhob sich aus meinem Herzen und ich schnappte danach, behielt es im Mund und kostete es, als ich zu meiner kleinen Hütte zurückging.
Ich fand ein leeres Notizbuch, schlug die erste Seite auf und erst da öffnete ich die Lippen, sprach die Worte, ließ sie frei.
Ich hörte, wie die Worte mein Schweigen durchbrachen und erlaubte meinem Stift, sie Schwarz auf Weiß festzuhalten: „Ich liebe dich. Ich werde dich nie verlassen. Ich werde mich immer um dich kümmern.“
Dies waren die ersten Worte, die ich in jenes private Notizbuch schrieb, das ich von da an bei mir trug und auf das ich in den folgenden zwei Jahren häufig zurückgriff, stets Hilfe suchend und Hilfe findend, auch wenn ich zu Tode betrübt oder verängstigt war. Und dieses, ganz im Zeichen jenes immerwährenden Versprechens stehende Notizbuch war schlicht und einfach der einzige Grund, weshalb ich die nächsten Jahre meines Lebens überstand.
Nicht ein Prinz hat mich gerettet sondern ich selbst habe es getan.
Bei dieser Gelegenheit kommt mir etwas in den Sinn, das ich einmal gelesen habe und das Zen-Buddhisten glauben: Eine Eiche, so sagen sie, werde durch zwei Kräfte gleichzeitig erschaffen. Zum einen natürlich durch die Eichel, mit der alles seinen Anfang nimmt. Durch den Samen, der das gesamte Potential enthält und zu einem Baum heranwächst. Das ist jedem ersichtlich.
Nur wenige aber können erkennen, dass auch noch eine andere Kraft am Werk ist. Nämlich der künftige Baum selbst, den es so unbedingt in die Existenz drängt, dass er die Eichel ins Sein zieht. Der durch seine Sehnsucht den Sämling aus der Leere zieht und die Evolution aus dem Nichts zur Reife geleitet.
So betrachtet, behaupten die Zen-Buddhisten, sei es die Eiche, welche die Eichel erschafft, aus der sie entstanden ist.
Ich mache mir Gedanken darüber, wer ich in den letzten Jahren geworden bin.
Über das Leben, das ich jetzt führe und wie sehr ich mir immer gewünscht habe, diese Person zu sein und befreit vom Drang, jemand anders zu sein, als ich bin, dieses Leben zu leben.
Ich denke an alles, was ich vor meiner Ankunft hier durchgemacht habe und frage mich, ob denn ich es war, ich meine dieses glückliche und ausgeglichene Ich, das ich jetzt bin, welches das andere, verwirrtere und jüngere Ich in all diesen schweren Jahren in die Zukunft gezogen hat.
Das jüngere Ich war die Eichel voller Potential.
Aber das ältere Ich, die mächtige Eiche hat andauernd gedrängt: „Ja, wachse. Verändere dich. Entwickle dich. Komm und triff mich hier, wo ich schon in meiner Reife und Ganzheit existiere. Du musst ich werden.“
Aus dem Buch: "Eat, Pray, Love"
Bild: Cecile Carre